Kinder und Konflikte
The Spaghetti Incident: „Er/sie/es hat mehr!“
Futterneid ist ein leidiges Thema unter Eltern. Wir würden es natürlich am liebsten verbannen können, aber das funktioniert mit einem natürlichen Verhalten natürlich nicht. Die Szenen, die Futterneid zu Hause zutage fördern kann, sind bisweilen brachial – zumal, wenn viele Kinder involviert sind. Hier ein Beispiel aus unserem Familienalltag und ein paar wenige Tipps, die dagegen helfen können. Enjoy!

Wenns was Besonderes am Abend zu futtern gibt, bricht gleich das Gerangel zwischen den Geschwistern aus. Und profunde Gerechtigkeitsdebatten.
Kinderreichtum kann superschön sein. Speziell das Miteinander unter Geschwisterkindern kann Mama und Papa Glückshormone im Überfluss ausschütten lassen. Wenn sich die Kleinen liebevoll umeinander kümmern und gegenseitig fragen: „Schatzi, kann ich dir mit der Jacke helfen?“ Wenn sie tief in Rollenspiele à la „Einhörner meet Spidey“ versinken und zusammen ihre Fantasie ausdrucksstark ausleben. Wenn sie gemeinsam puzzeln, malen, basteln, unter dem Rasensprenger rumtollen oder im Laub, Regen, Matsch oder Schnee. Wenn sie nebeneinander im Bett kuscheln, während Mama bis zur Besinnungslosigkeit Geschichten vorliest. Wenn sie sich gegenseitig die Welt erklären („Blumen brauchen auch Wasser zum Leben. Wie wir. Deshalb gießen wir sie.“) und vor Gefahren warnen („Nein, nicht den Stein in den Mund nehmen. Du kannst den verschlucken und dann müssen wir ins Krankenhaus.“). Wenn sie im Nullkommanichts das neueste Pausenhofspiel vom älteren Geschwisterkind aufschnappen, das Spiel spiegeln und mit dem Lehrmeisterkind sofort das quatschigste Dimer der Welt bilden (kicher, kicher, kicher). Solche Situationen miterleben zu dürfen, ist ein absolutes Privileg und zaubert Mami und Papi regelmäßig ein ehrliches Lächeln ins Gesicht.
Aber: Kinderreichtum kann natürlich auch äußerst anstrengend sein. Denn man – und frau – ist ständig dabei, Gerechtigkeit zu gewährleisten, Befindlichkeiten und Bedürfnisse zu balancieren, Konflikte zu entknäueln oder zumindest herunterzukochen sowie Neid zu nivellieren. Wenn es um Spielsachen, Bücher oder CDs geht, kann besonders Neid extrem nervig sein.
Simples, aber realistisches Beispiel: Eines der Kinder hat ein Pixi-Buch bekommen, weil es mit Papa beim Budni war. Die anderen Kids kriegen davon Wind und sind natürlich sofort beleidigt, weil sie keins bekommen haben. Also müssen Mama und Papa eigentlich immer vier Pixi-Bücher kaufen. Der Versuch, mit Heimlichkeit Neid zu umgehen, schlägt übrigens meist fehl. Entweder weil sich das Kind an die Abmachung, den Geschwistern nichts zu erzählen, vor lauter Übermut einfach nicht halten kann („Hä, hä, ich hab mal ein Pixi-Buch von Papa bekommen.“). Oder weil die elterlichen Adleraugen ausnahmsweise nicht schnell genug das neue Pixi-Buch, das sich arglos seinen Weg in die familiäre Öffentlichkeit gebahnt hat und sich dort nun selig suhlt, erblickten, um es rechtzeitig wegzuräumen („Ein neues Pixi-Buch … Hat XYZ etwa ein neues bekommen? Ich will auch!“). Natürlich sind wir dann redlich bemüht zu erklären, dass es ja eigentlich das Pixi-Buch aller Geschwisterkinder ist. Aber das hilft wiederum nicht, weil das beschenkte Kind anfängt, rumzumaulen, es wäre nur sein Pixi-Buch. Ein Dilemma – unter vielen. (Übrigens: Unsere Pixi-Buch-Sammlung, so stattlich sie einst anwuchs, stagniert seit Längerem, denn Papa geht jetzt für gewöhnlich ohne Kinder zum Budni. Ist, oh Wunder, viel entspannter – und effizienter.)
Am schlimmsten und am häufigsten ist Neid aber bei einer der elementarsten Situationen des Menschseins: beim Essen. Der allseits gefürchtete Futterneid kann zu schlimmen Schlachten eskalieren. Mit Schreien, Schlagen, Schubsen, Wildeste-Erklärungen-und-Behauptungen-in-die-Welt-Setzen, Bluffen, Täuschen und Verstecken und allem anderen, was Mama und Papa überhaupt nicht gerne zwischen Geschwistern sehen. Vor einer Weile war es mal wieder so weit.
Ein ruhiger Tag …
Eigentlich war es ein richtig ruhiger Alltagtag. Kooperationsblockaden und anderweitige Konflikte blieben mir weitgehend erspart. Wecken: lief. Anziehen: lief. Auf dem Weg zur Schule und zur Kita liefen alle gesittet und sicher. Und beim In-den-Gruppenraum-Bringen gab es auch kein Trara. Ich konnte noch kaputte Kleidung bei unserer Stammschneiderin abgeben, einen längeren Onlineartikel in meinem Lieblingscafé bei zeitgleichem Genuss von tostas mistas lesen und zu Hause planbar weiterarbeiten. Ich war motiviert und hatte Spaß. Yay!
Außerdem war für unser ältestes Kind und mich PS angesagt: persönlicher Schwimmkurs. Soll heißen: Ich habe unser Kind früher von der Schule abgeholt, damit wir Schwimmen üben fahren konnten. Das ist für Papa, der passionierter, wenn auch nicht gerade leistungsstarker Amateursportler in Sachen Schwimmen ist, ebenfalls sehr schön. Selbst schwimme ich dann zwar nicht, weil dazu erstens keine Zeit bleibt und ich zweitens mein Kind nicht mehr im und am Wasser allein lasse, solange es nicht sicher schwimmen kann.
Nach der Schwimmeinheit holten wir die Geschwister aus der Kita ab. Die waren hocherfreut, dass Papa mit Verstärkung kam und die vier zusammen Quatsch machen konnten. Kurz auf einen Spielplatz, danach zum Auto, auf Verlangen mehrerer Kinder hin fuhren wir selbiges in die Waschstraße und schließlich ab nach Hause.
Angekommen wollte jede und jeder natürlich sofort zu ihrem und seinem Lieblingsfreund. Da es aber spät war, ging es direkt in die Bude. Erstaunlicherweise ohne viel Gegenwehr. Die Ruhe …
… vorm stürmischen Abend
Drinnen musste ich wie immer einige Kinder daran erinnern, dass erst Jacken und Schuhe ausgezogen und Hände gewaschen werden, bevor es vom Flur in den wohligen Wohnbereich geht. Mama hatte schon Feierabend dank früher Head-of-Website-Schicht (Glückwunsch, MiZi). Deshalb war der Abendbrottisch gedeckt, was ja erst einmal einladend auf die Kinder wirken sollte. Wäre da auf dem Herd, den man hervorragend vom Eingang zu unserem Wohn-Ess-Küchen-Bereich sehen kann, nur nicht dieses winzige Detail gewesen: der Spaghettikochtopf vom elterlichen Mittagessen. Es folgt ein Gedächtnisprotokoll der Gespräche und Ereignisse, die nur in minimaler Weise zwecks Dramaturgie verändert wurden. Die Szenerie ist jedoch weiterhin in jeglicher Hinsicht zu 100 Prozent realistisch – oder so sogar schon vorgekommen:
Kind eins stürmt nach erfolgreichem Händewaschen in den Wohnbereich, erblickt das Reizobjekt auf dem Herd, bleibt stehen und legt los: „Was ist da in dem Topf?“ Erste Sabbertropfen bilden sich um des Kindes Mund.
Kind zwei lugt vom Flur in die Küche: „Gibts heute was Warmes?“ Die Frage wird im Abgang von einem gierigen Knurren begleitet.
Papa aus dem Flur zu Kind zwei, das an der Schwelle des Wohnbereichs steht: „Nicht mit den Schuhen ins Wohnzimmer!“ Der Ton ist freundlich, aber bestimmt.
Kind zwei sagt mürrisch „Okay“ und geht zurück. Knurren ist noch unterschwellig zu vernehmen, allerdings aggressiver in der Klangfarbe.
Kind drei beim Händewaschen: „Was hat Papa gesagt?“ Es guckt dabei, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die assistierende Mutter wie ein süßes Hündchen an, das das Herrchen nicht wirklich versteht.
Welpe Nummer vier im Flur am Ausziehen: „I auch!“
Kind eins rast zum Hochsteigehocker, schiebt ihn dröhnend zum Herd, krabbelt hoch, öffnet den Topf, die Augen fangen zu funkeln an und es jault heraus: „Woohoo, Spaghetti!“
Miene vom mürrischen Kind zwei, das den Weg wieder zurück in den Flur gefunden hat, hellt sich auf: „Gibts heute Spaghetti, Papa?“ Hechel, hechel. Zunge hängt raus, Sabber läuft auf den Boden.
Papa: „Ihr könnt den Rest vom Mittagessen haben, ja.“ Der Ton geht ins Grummelige über.
Kind zwei: „Juhu“, hechelt noch mehr wie ein kleines PAW-Patrol-Hündchen und beeilt sich, die Schuhe loszuwerden.
Kind drei kratzt sich mit der Vorderpfote an den Ohren und fragt aus dem Badezimmer: „Was ist da draußen los?!“
Mama, die sich auf ein ruhiges, gesittetes Abendbrot nach einer anstrengenden Schicht gefreut hat, antwortet ob der Vorausschau auf die ab nun unausweichlichen Ereignisse unterschwellig genervt: „Nix!“ Kind drei riecht aber den – beziehungsweise einen – Braten und grinst verschmitzt und nimmt die Pfoten in die Hand.
Welpe Nummer vier, weiterhin mit der Jacke beschäftigt, japst: „I auch?“
Kind zwei pest ins Badezimmer, um schleunigst Pfoten zu waschen und somit Erlaubnis für den Eintritt in die heiligen Hallen der Essensaufnahme zu erhalten. Kind drei flitzt unterdessen in den Wohnbereich, weil die Griffelreinigung endlich fertig ist.
Papa zu Mama: „Du musst dich kurz um Nummer vier kümmern, ich muss mal die Küchenlage checken.“ Seine Miene verfinstert sich.
Just in dem Augenblick klötert es und Papa weiß, das erste Kind hat eine Plastikschale im Anschlag.
Kind zwei: „Hey, das ist meine Farbe. Grrr.“
Kind eins: „Nein, ich hatte sie zuerst. Selber grrr.“
Gerangel und Gequietsche, Geheule und Gebelle ist zu hören. Papa tritt ein, als die beiden Kinder anfangen, sich auf dem Hocker beim Aufladen zu beharken, um möglichst viel von dem schnell schlingbaren Gut zu ergattern, und sagt: „Stopp, die anderen wollen auch noch was abbekommen.“
Papa schafft es, die beiden Erstzugriffler vom Herd wegzubekommen. Kind drei kommt rein, sieht die Spaghetti-befüllten Schalen und sagt: „Ich will auch“, hechtet zum Schrank, nimmt sich einen Fressnapf und steigt die Treppen zum Pasta-Thron hoch.
Kind eins: „Ey, Nummer drei hat sich dreimal genommen.“
Kind drei entrüstet: „Nein, hab ich nicht.“
Kind eins: „Doch!“
Kind drei faucht: „Na-hein!“
Kind eins völlig aufgelöst und den Tränen nahe: „Das ist unfair, Nummer drei hat viel mehr. Das macht er/sie/es immer.“
Kind drei: „Nein, ich hab gleich viel. Ich hatte nur kleinere Portionen genommen.“
Welpe Nummer vier wackelt rein, schnallt, was Phase ist, guckt Mama hinter sich mitleiderregend an, weil es keine Schüssel mit Spaghetti vor sich hat, und winselt: „I auch.“
Alles ganz normal. Wirklich?!
Der Witz ist ja, dass es sich bei dem Streit in diesen Situationen nur um ein Delta von zwei, drei Spaghetti handelt. Max! Selbst wenn es keinen real existierenden Unterschied gegeben hätte, hätte es zu der Situation kommen können, weil die Wahrnehmung grundsätzlich schwerer wiegt als die Wahrheit.
Zum Glück mache ich mir keine Sorgen, dass die Kids so ausflippen. Ich habe mittlerweile genug über Futterneid gelesen, weiß also, dass es ein recht natürliches Konkurrenzverhalten von Menschen ist. Die liebe Evolution hat es uns beschert. Wenn tatsächlich ums Überleben gekämpft wurde, verhalf Futterneid bei Nahrungsknappheit den Durchsetzungsstarken, sich zu behaupten. Bei diesem Selektionsprozess spielten wohl Kraft und Dominanz eine Rolle. Daher die unschönen Szenen zwischen Geschwistern.
Auch wenn es wie bei uns heutzutage Nahrung im Überschuss gibt, lässt sich dieses Verhalten nicht einfach abstreifen oder komplett vermeiden. Gerade bei Geschwistern mit geringem Altersabstand, also wie bei meinen Kindern, tritt Futterneid immer wieder gerne im Familienalltag in Erscheinung. Das große Problem dabei ist schlichtweg die Kontrolle von Emotionen. Je älter die Kinder werden, desto besser gelingt es, nicht jeden Neidimpuls direkt in die Welt rauszuhauen. (Raushauen: Das ist auf Grundlage jahrelanger bloßer Beobachtung meinerseits wortwörtlich gemeint.)
Wir als Eltern haben natürlich einen gewissen Gestaltungsspielraum in solchen Momenten. Wir können diese Situationen vermeiden, indem wir per Küchenwaage genau gleich schwere Teller abfüllen, sodass alle genau gleich viel bekommen – und sodass alle das klar wahrnehmen können (selbst kleine Kinder verstehen schon: gleiche Zahl = gleich viel Happa-happa). Oder wir können Strategien nutzen, bei denen ein Kind zunächst alle Teller auffüllt und sich die anderen danach vor dem Auffüllerkind einen Teller nehmen dürfen. Dadurch kann sichergestellt werden, dass es nach Ansicht aller Protagonisten und Protagonistinnen gerecht zugeht.
Das Ding ist nur: Dazu müssen Mama und Papa möglichst in der Nähe des verteilbaren Gutes sein, bevor irgendein Schnellschießer durch Druckbefüllung der eigenen Kessel fix Fakten schafft und die anderen Anwärterinnen und Anwärter übel triggert. Das ist nämlich bei uns die wirkliche Herausforderung in den allermeisten Situationen: die Dynamik durch viele Kinder und aus dem Ruder gelaufene Randbedingungen. Oft haben wir mit den kiddos aus guten Gründen Regeln und Abläufe klar definiert und ihnen erklärt. Wenn wir aber mal ein „Element“ vergessen, wie zum Beispiel Mittagsreste blickdicht verwahren oder am besten wegstellen, führt das in aller Regel zu Gezanke und Gehacke.
So viel zu den Fakten und Strategien zum Thema Futterneid in a nutshell. Ach nee, hier kommen weitere vier Funfacts – aus unserem Alltag: Futterneid stellt sich auch bei Vitamin-D-Tabletten ein. („Hey, warum kriegt Kind XYZ eine Tablette und ich nicht?!“ „Weil ich noch nicht bei den Tabletten für kleine/große Kinder bin!“). Antibiotikasaft bildet meistens eine Ausnahme, ist dementsprechend nicht Teil des Futterneidraums. Aber Inhalieren mit Salbutamol oder ähnlichen Sprays kann zu futterneidähnlichen Auseinandersetzungen führen. Ist in der jetzigen Jahreszeit gerade wieder brandaktuell – leider. Und zum faktischen Abschluss: Röstzwiebeln zählen ist ein herrliches Hobby, das ich mir vor meiner Vaterschaft nicht hätte ersinnen können. Weder dass es das gibt noch dass es herrlich ist – weil es Ruhe gibt.
Nächtlicher Nachschub
Zurück an unseren Esstisch: Als die Mägen an besagtem Abend voll und die Gemüter beruhigt waren, beschloss ich, schnell einkaufen zu fahren – der Spaghettivorrat war ja alle. Und unser Kühli gähnte auch schon wieder lauthals. Außerdem ist mein Motto: Lieber am Abend auf die Schnelle losfahren, als am nächsten Vormittag nach der Schul-Kita-Runde etwas von der frischen Arbeitszeit zu opfern. Man(n) ist ständig am Optimieren von Abläufen.
Mama managte indes die vier Halbwilden. Die durften ihr beim Wäschezusammenlegen helfen, waren somit beschäftigt und hatten Muttertierzeit.
Ich stieg ins Auto, machte Rock Antenne Hamburg an und hoffte, dass sie passend zum Abend Guns N’ Roses spielen würden. Was aber nicht geschah. Dafür traf ich einen Bekannten, der mir erzählte, dass es an der Ostsee einen Supermarkt gebe, der 24 Stunden aufhabe. Man könne in Ruhe spätabends, wenn die Kinder am Schlafen oder Einschlafen seien, reingehen, einfach selbst Sachen scannen und zum Schluss bezahlen. Das wäre auch hier ganz geil. Obwohl … Ich hatte doch meine Ruhe. Nach einem kurzen, aber lauten Spaghetti Incident.